Textauszüge

Zoologischer Garten Berlin

Laut ist es in der Hauptstadt. Busse brettern die mehrspurige Straße herunter, Taxis hupen. Nicht weit von hier liegt die CDU-Zentrale, lauter Botschaften tummeln sich um das Landesinstitut für Tropenmedizin, die Landeszentrale für politische Bildung, die Volkshochschule, ein französisches Gymnasium. Und ein paar Schritte weiter klackert der Ku’Damm unter den Absätzen der Touristen und Einkaufsbummelnden. Das ist Berlin. Das alte Westberlin.

In den Schaukästen vor dem Haupteingang präsentiert die Urania ihr aktuelles Programm. Die Urania, das ist „wissenschaftliche Bildung für alle und Vermittlung von Wissen durch diejenigen, die es selbst neu gewonnen haben“, lese ich. Eine Institution mit Tradition, über hundert Jahre alt. Wie die Gesellschaft, die die Räumlichkeiten heute gemietet hat: Der Zoologische Garten Berlin, gegründet im Jahre 1844.

Die wenigen, die um zehn Uhr schon hier sind, werden am Eingang per Handschlag begrüßt. Jede Aktie ist eingeklebt in eine der riesigen alten Kladden, die auf dem blanken Tresen der Garderobe liegen. Erinnerungen an ein Aktienbild aus alten Schwarz-Weiß-Filmen: große vergilbte Zettel mit schnörkeliger Schrift, die in Tresoren liegen und nach jahrzehntelanger Vergessenheit die ahnungslosen Erben in unermesslichen Reichtum stürzen.

(…)

Die Aktionärinnen bringen das Flair des Westberliner Bildungsbürgers in den Saal mit den roten Plüschklappsesseln. Alles ist ruhig und gediegen. Man liest Zeitung. Der Techniker baut die Mikrofone mit Besonnenheit auf, während sich die Herrschaften langsam im Saal verteilen. Behutsam führt eine Mitarbeiterin eine Dame am Arm zu ihrem Platz. Jede zweite Reihe ist abgesperrt. „Damit wir später besser durchkommen bei der Einsammlung der Stimmzettel“, erklären mir die
Frauen vom Saalpersonal, denen die rot-weißen Flatterbänder sichtlich peinlich sind, „es sind ja 800 Plätze, aber wir erwarten 300 Gäste“. So viele Besucher strömen an einem durchschnittlichen Tag in einer Viertelstunde durch die Tore von Zoo, Aquarium und Tierpark.

Der Altersdurchschnitt liegt bei der heutigen Hauptversammlung sicher noch etwas höher als sonst schon üblich auf Hauptversammlungen. Der Kultiviertheitsgrad aber auch. Wir sind nicht, wie sonst üblich, umhüllt von Duftwolken aus Schweiß und Kopfhauttalk. Die weißen Haare sind frisch frisiert, überall riecht es nach Bildung. Ich sehe bestickte goldene Rohseide. Der cremefarbene Rollator einer cremefarbenen Aktionärin trägt in silbernen Lettern den flotten Namen Jazz.
 

Lufthansa

Es ist auch dieser Ausschluss der Medien, der die Hauptversammlungs-Crowd zu einer eingeschworenen Gemeinschaft macht. Wer persönlich anwesend ist, weiß, wie der Hase läuft, der kennt sich aus, kennt die Stars. Wer nicht kommt, wird sie nie in Aktion sehen. Ein paar Tausend Menschen, das ist hier die Öffentlichkeit. Höchstens. Und all jene, die noch nie bei einer Hauptversammlung waren, haben kein Bild von diesem real existierenden Paralleluniversum.

Ein dynamischer Mann mittleren Alters kommt uns entgegen, auf dem Rücken ein Rucksack, der etwas zu klein ist für eine Tageswanderung. Gerd Verdion ist Beamter und befasst sich schon seit über dreißig Jahren mit Aktien. Sein Vater war Bankkaufmann. Herr Verdion ist verärgert: „Die AGs werden abgewirtschaftet, die Vorstände nehmen die Unternehmen aus, kassieren fünf Millionen trotz Verlusten, die Dividende liegt bei zwei Euro fünfzig. Und die Aufsichtsräte? Das sind reine Kungeleien mit den Vorständen. Diese Gremien werden doch von Manageruniversitäten automatisch mit Nachwuchs versorgt. So ein Klüngel!“ Aus seiner Sicht wird die Demokratie schon allein durch die Abstimmungspraxis ausgehebelt: „Ablehnen oder zustimmen – wer nichts sagt, wird als Zustimmung gezählt.“

Im Aktienrecht gilt eine Art Zensuswahlrecht, Stimmengewichtung nach Vermögen, für die deutsche Politik schon 1918 abgeschafft. In der Aktienwelt verbindet sich das alte Prinzip mit einem neueren demokratietheoretischen Ansatz: Nach Jürgen Habermas setzt Deliberation auf öffentliche Diskussion unter Beteiligung aller. Das klingt gut. Das klingt nach der Generaldebatte, die gleich losgehen wird. Aber auch von der Generaldebatte verspricht sich Herr Verdion nichts: „Was da gesagt wird, geht da rein und da raus. Das ist so frustrierend, da geht einem das Klappvisier auf! Bei Sky hab ich gefragt: ‚Wann erfolgt der Entscheid der Bundesligarechte?‘ ‚Dürfen wir nicht sagen, steht nicht fest.‘ Und abends steht die Antwort in der Zeitung.“ Warum er trotzdem hier ist? „Wir kommen her, um die Dividende in Form von Essen mitzunehmen. Und dann gucken wir uns in Köln die Stadt an.“

Beate Uhse

„Für uns ist das ein Ausflug hier“, erzählt Frank, „wir wollen dann in der Umgebung alles angucken und abklappern, Dänemark und so. Und alles bezogen auf Beate Uhse. Ich hab ja zwei Wochen Urlaub, na, und eine davon sind wir halt hier.“ Die Aktie haben sie aus einer Laune heraus gekauft: „Wir haben beim Grillen mal gescherzt drüber und dann hab ich zu meinem Lebensgefährten gesagt – der arbeitet bei der Bank –, besorg uns mal ein paar. Ein paar reichen ja.“ – „Und dann haben wir gesagt, wir kaufen auch welche und kommen einfach mit.“ Sie freuen sich, dass sie hier sind und auf das, was gleich kommt.

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Der Schwager bestätigt: „Eine ganz kleine Person, aber so freundlich, wirklich freundlich.“ Und er wiederholt: „Wir haben gedacht, Sex geht immer. Aber das stimmt wohl nicht. Wir haben ein bisschen später gekauft, da war sie noch ein bisschen teurer. Und jetzt …“ Dafür hat die Aktie einen ästhetischen Wert, hat er gehört: „Da ist eine attraktive Frau mit einem ansehnlichen Dekolté drauf.“ Seine Frau bedauert: „Wir haben die leider noch nie gesehen, sie ist ja im Depot.“ Aber ein schöner Busen im Depot tröstet allein nicht über den Wertverlust hinweg und deshalb scherzen sie, „kommen wir jetzt jedes Jahr, um unsere Zinsen aufzuessen“.